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Familien gelten als die älteste Institution einer Gesellschaft. Ihre strukturellen Formen und Aufgaben haben sich im Verlaufe der Jahrhunderte erheblich verändert. Die familiären Veränderungsprozesse wurden im Wesentlichen durch einen soziodemografischen und soziokulturellen Gesellschaftswandel indiziert. Aktuell ist eine polare Rollenverteilung von Müttern und Vätern weitgehend aufgehoben. D.h., dass vormals geschlossene System von Mutter und Kind ist aufgelockert und Väter sind in stärkerem Maße in die Pflege und Erziehung der Kinder einbezogen. Ende des letzten Jahrhunderts wurde der Begriff der ‘Neuen Väter’ geprägt. Zahlreiche wissenschaftliche und populäre Veröffentlichungen widmeten sich diesem Thema. In zahlreichen Untersuchungen wurde versucht, eine Klassifizierung unterschiedlicher Vätertypen zu entwickeln.
Die Entwicklung von der Paarbeziehung (Dyade) zum familiären Beziehungsdreieck (Triade) stellt eine tiefgreifende biografische Veränderung dar. Der Übergang zur Elternschaft verläuft bei einer unkomplizierten Schwangerschaft in unterschiedlichen Phasen, die auf die Geburt vorbereiten. Ein anschauliches Phasenmodell hat Gloger-Tippelt 1985 entwickelt.
Bei Eltern frühgeborener Kinder ist der Anpassungsprozess aufgrund der frühen Geburt deutlich verkürzt. Nachfolgend kann es zu langandauernden traumatisierenden Prozessen kommen. Während das Erleben und Bewältigung der Frühgeburt von Müttern mehrfach wissenschaftlich publiziert wurde (z.B. Vonderlin 1999, Sarimski 2000), stellt der psychodynamische Bewältigungsprozess der Väter ein wenig erforschtes Gebiet dar. Väterliches Gefühlserleben während der Schwangerschaft wurde bisher hauptsächlich von der psychoanalytischen Wissenschaft aufgegriffen (Gambaroff 1990). Das väterliche Erleben während der Geburt wurde allgemein bearbeitet (z.B. Schäfer et al. 2008), im Kontext einer Frühgeburt wurde es im Rahmen einer Pilotstudie der medizinischen und heilpädagogischen Fakultät der Universität Köln als Teilstudie berücksichtigt. Die Stichproben waren allerdings gering und lassen nur eingeschränkt Verallgemeinerungen zu. Durch ihren explorativen Charakter hat diese Pilotstudie einen wichtigen Beitrag in der wissenschaftlichen Bearbeitung über Väter frühgeborener Kinder geleistet. Eine Untersuchung von Studer (2011) zur Vater-Kind-Interaktion bei Frühgeborenen, konnte weder im Vergleich zur Mutter-Kind-Interaktion noch zur Vater-Kind-Interaktion Termingeborener signifikante Unterschiede nachweisen. Während des stationären Aufenthalts des Kindes bildet der Vater im triadischen Sinn ein wesentliches Bindeglied zwischen Mutter und Kind, besonders dann, wenn die Mutter selbst noch medizinischer Betreuung bedarf. Um bei den Müttern Gefühle wie Inkompetenz, Versagen oder Schuld nicht zu verstärken ist ein sensibler Umgang bei der Einbeziehung in die frühe Pflege und Versorgung des frühgeborenen Kindes auf der Station nötig. Bedeutende Maßnahmen zur Unterstützung der Interaktion und des Bindungsaufbaus zwischen Vater, Mutter und Kind während der Klinikphase sind eine entwicklungsfördernde Pflege (z.B. nach Heidelise Als), familienorientierte Frühgeborenenmedizin (z.B. nach dem Stockholmer Modell nach Westrup) und eine psychologische Betreuung.
Nach der Entlassung aus der Klinik sind intra- und interpsychische Stressbewältigungsstrategien von erheblicher Bedeutung und sind eher individuell als geschlechterspezifisch ausgeprägt. Festzustellen ist jedoch, dass Väter einen bedeutenden positiven Einfluss auf die Mutter-Kind-Beziehung bei postpartalen psychischen Erkrankungen der Mutter haben. Der günstige Einfluss von Vätern auf die Entwicklung des frühgeborenen Kindes kann durch eine psychotherapeutische Begleitung (z.B. nach dem Ulmer Modell nach Brisch) unterstützt werden. Auch weitere Untersuchungen (z.B. nach Laucht/Schmidt) weisen auf das supportive Verhalten der Väter mit protektiver Wirkung bei Hochrisikofamilien hin. Eine Studie von Studer mit longitudinalem Ansatz untersuchte die Auswirkungen der Vater-Kind-Interaktion bei Frühgeborenen im Vergleich mit den Müttern Frühgeborener als auch im Vergleich mit Vätern Reifgeborener. Im Vergleich mit den Müttern stellte sich bei den Vätern eine ebenso ähnliche Sensitivität im Umgang mit den Säuglingen dar. Auch im Vergleich mit den Vätern Termingeborener konnten keine signifikanten Unterschiede in der Interaktion mit dem Säugling nachgewiesen werden.
Zusammenfassend gilt den Vätern frühgeborener Kinder besondere Aufmerksamkeit. Zum einen, da sich Vaterschaft im Verlauf der letzten Jahre erheblich verändert hat und zum anderen, weil die besondere Bedeutung des Vaters im Kontext einer Frühgeburt wichtige Erkenntnisse für den Umgang und die Betreuung von Eltern und ihren frühgeborenen Kindern liefert. Die aktuellen Erkenntnisse unterstreichen somit die einflussreiche Bedeutung der Väter im familiären Gesamtkontext zwischen Stabilisierung der Familie und Bewältigung nach einer Frühgeburt.
Anette Weißbrodt, geb. 1967, Pädagogin/ Master of Arts Soziale Arbeit/ FH Potsdam. Studium im Fachbereich Erziehungswissenschaft, Sportwissenschaft und Germanistik/ Universität Kassel, Gesundheitspädagogin (DGG e.V.), examinierte Kinderkrankenschwester. Seit 1997 im Sozialpädiatrischen Zentrum am Klinikum Kassel in der Nachsorge Frühgeborener.
ISBN-13 (Printausgabe) | 9783954042180 |
ISBN-13 (E-Book) | 9783736942189 |
Sprache | Deutsch |
Seitenanzahl | 134 |
Umschlagkaschierung | matt |
Auflage | 1. Aufl. |
Erscheinungsort | Göttingen |
Erscheinungsdatum | 14.09.2012 |
Allgemeine Einordnung | Diplom |
Fachbereiche |
Psychologie
Pädagogik Humanmedizin |
Schlagwörter | Frühgeborene, Väter, Paarbeziehung, Elternbetreuung, Elternbegleitung, Bindung, Neonatologie,Allgemeine Pädagogik, Kinderheilkunde |