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07.09.2021

Karl der skrupellose Große

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Schon im Laufe der Schulzeit lernen Schüler*innen, dass Textanalysen und -interpretationen immer mit Rücksicht auf die jeweilige Entstehungszeit vorgenommen werden müssen. Warum übernehmen renommierte Wissenschaftler kritiklos Darstellungen Karls des Großen, welche im Geist des Nationalismus geschrieben wurden und hinterfragen diese nicht?


Wissenschaftliche Forschung im Geist der Zeit


Schon im Laufe der Schulzeit lernen Schüler*innen, dass Textanalysen und -interpretationen immer mit Rücksicht auf die jeweilige Entstehungszeit vorgenommen werden müssen. Warum übernehmen renommierte Wissenschaftler kritiklos Darstellungen Karls des Großen, welche im Geist des Nationalismus geschrieben wurden und hinterfragen diese nicht?


Durch den Vergleich signifikanter Aussagen der anerkanntesten Geschichtsforscher der letzten 200 Jahre mit denen von Zeitgenossen Karls des Großen zeigt der habilitierte Mittelalterhistoriker Roland Pauler eindrucksvoll, dass erstere eher ein Spiegel der Geisteshaltung des 19. bis 21. Jahrhunderts sind, als eine akzeptable Rekonstruktion des Handelns dieses Herrschers. Im 8. und 9. Jahrhundert wurde Karl als gütiger Wahrer des Rechts gepriesen. Das 19. Jahrhundert wiederum hat aus ihm einen Herrscher gemacht, der seinem Bruder das Erbe entreißen wollte und ohne Rechtsgrund zwei Frauen verstieß, nur weil dies seinen machtpolitischen Interessen entsprach. Um dieses Herrscherbild zu fördern, verstießen gefeierte Historiker gegen Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens, die sie ursprünglich selbst entwickelt hatten und propagierten. Auch heute noch vermitteln ihre Epigonen ein völlig falsches Bild vom „Vater Europas“, der skrupellos seine Ziele gegen geltendes Recht verfolgte.
 Solche Vorstellungen entspringen nicht nur dem Zeitgeist, sie beeinflussen ihn auch. Welche Folgen hat das für die Gesellschaft?

„Der Historiker ist ein Reporter, der überall dort nicht dabei war, wo etwas passiert ist.“ (William Somerset Maugham)


Historiker tragen ähnlich wie Journalisten eine gesellschaftliche Verantwortung für die Bilder, welche sie auf Basis zeitgenössischer Quellen formen und öffentlich kommunizieren. Ihre Aussagen und Schilderungen prägen das öffentliche Meinungsbild und obliegen daher der Pflicht der wahrheitsgemäßen Darstellung. Im 19. und 20. Jahrhundert entwickelten Wissenschaftler daher selbst Regeln/Gesetze zur Qualitätssicherung, welche eine am Ideal der Wahrheit orientierte Abbildung historischer Ereignisse garantieren sollten.
Zweifelsohne sollte jedem bewusst sein, dass die Forschungen von Geschichtswissenschaftlern – und zwar jeder Epoche – nicht frei von Weltanschauung und gesellschaftlichen Erwartungen sind. Werte und Erziehung beeinflussen die Objektivität jeder Darstellung – und das ist nicht verwerflich! Interpretationen von Geschehenem und Geschriebenem müssen aber grundsätzlich immer im Rahmen der Situation ihrer Zeit betrachtet werden und dürfen nicht ungeprüft als „Wahrheit“ behandelt werden.


Geschichte – Wie fake-news zu gesellschaftlichem Konsens werden


Auch der Autor Roland Pauler hatte sich in seiner Zeit als Universitätslehrer nur unzureichend mit den zeitgenössischen Quellen zu Karl auseinandergesetzt und sich bei der Abfassung einer Vorlesung über diesen auf die unbestrittene Forschung verlassen. Erst während seiner Recherchen im Rahmen eines Buchprojektes fielen ihm Unstimmigkeiten auf, die ihn nachdenklich machten. Wie kann es sein, dass anerkannte Wissenschaftler ein Bild vertreten, welches nicht mit den zeitgenössischen Quellen übereinstimmt? Für noch mehr Unverständnis sorgte bei Ihm aber, dass seine in jenem Buch geäußerten Zweifel am Forschungsstand vom Präsidenten der Monumenta Germaniae Historica, Rudolf Schieffer, einem weltweit anerkannten Wissenschaftler, ohne irgendeine Begründung als exzentrische Thesen abgetan wurden, die somit dem Buch seinen Wert nahmen.
Er fühlte sich an Uta Ranke-Heinemann erinnert, der von der Kirche die Lehrerlaubnis entzogen worden war, weil sie die Jungfrauengeburt Mariens angezweifelt und dargelegt hatte, dass dieses Dogma auf völlig falscher Interpretation frühchristlicher Quellen beruhte – ebenso wie das Zölibat, die Sexualmoral und die Stellung der Frauen in der Kirche. Mit Tunnelblick hatten Theologen im Zeitraum von fast zwei Jahrtausenden Sexualität verteufelt und Frauen vom Priesteramt ausgeschlossen. Mit genau solch einem Tunnelblick haben Historiker Karl den Großen, eine zentrale Figur in der Geschichte Europas, in einen skrupellosen Herrscher verwandelt und ihn für das Unrecht gefeiert, das er begangen haben soll. Dieses aus gewaltverherrlichenden Fantasien entsprungene Urteil wurde zum Standardwissen erhoben und in Massenmedien wie auch in Schulen verbreitet. Gab und gibt es nicht schon genug Gewalt in unserer Gesellschaft?


Wie aus Karl dem Großen ein „machtgeiler“ und absolutistischer Alleinherrscher wurde


Sowohl für die Deutschen als auch für die Franzosen galt Karl der Große als Begründer des jeweiligen Staates, weshalb es aus heutiger Sicht auch nicht verwunderlich scheint, dass die nationalistisch geprägten Historiker des 19. Jahrhunderts seine Leistung auf besondere Weise zu würdigen versuchten. Ranke, Giesebrecht, Simson und Mühlbacher machten daher aus ihm – im Widerspruch zu den Aussagen zeitgenössischer Quellen – einen „skrupellosen Machtpolitiker“. Ihnen folgten weitere Historiker auf der ganzen Welt. Ist Pauler also ein „wissenschaftlicher Geisterfahrer“? Werfen wir einen Blick auf seine Argumente:


Absurde und haarsträubende Interpretationen


Quellenvergleiche zeigen verschiedene Unstimmigkeiten auf. Beispielhaft für eine solche Fehlinterpretation ist die „Ehe mit Hilmitrud“ – der ersten Ehefrau, die Karl verstoßen haben soll, ohne dass es dafür irgendeinen zeitgenössischen Beleg gäbe:
„Es gibt keine Quelle, die ausdrücklich bezeugt, dass Karl mit Himiltrud, der Mutter seines ältesten Sohnes Pippin, verheiratet war. Die Annahme beruht darauf, dass der Papst in einem Brief von 770 oder 771 beide Brüder ohne Nennung der Namen der Ehefrauen als verheiratet bezeichnet hat und dass Pippin noch bis ca. 790 als erbberechtigt galt, was für uneheliche Söhne der Frankenkönige nicht unüblich war.
Rudolf Schieffer hat 1992 Karls Verhältnis zu Himiltrud als Friedelehe bezeichnet, obwohl seit 1989 erwiesen war, dass die Friedelehe, bei der die Frau nicht unter der Munt (= Schutzherrschaft) des Mannes steht, erst 1927 vom Rechtshistoriker Herbert Meyer erfunden wurde. Der gehörte 1933 zu den Gründungsmitgliedern der nationalsozialistischen Akademie für Deutsches Recht Hans Frank, war ein strammer Nationalsozialist mit Sehnsucht nach einer wahren Volksgemeinschaft.“
Als „Hirngespinste“ bezeichnet Pauler die Feststellung des Historikers Lintzels aus dem Jahr 1929 zum sog. Bruderstreit: Lintzel behauptete nämlich, Karl habe das Ziel verfolgt, seinen jüngeren Bruder Karlmann zu entthronen, da dieser ihm stets als Rivale gegenübertrat. Aus den Notizen Einhards, eines Zeitgenossen Karls, lässt sich jedoch unmissverständlich herauslesen, dass die Einheit der beiden Brüder fortbestand, obgleich viel einflussreiche Mächte aus Karlmanns Reich die beiden zu ihren Gunsten in Krieg verwickeln wollten. Anhand dieses Beispiels wird deutlich, wie gefährlich es für die Geschichtsschreibung sein kann, wenn die Fiktion eines Nationalisten wie Lintzel, der im Dritten Reich….präsentierte.


Umdenken! Der dringend erforderliche nächste Schritt


Diese offensichtlichen Fehldarstellungen verlangen nach Korrektur. Aber nicht nur das bestehende Bild Karls des Großen sollte auf Basis der zeitgenössischen Quellen über das von Pauler monierte hinaus hinterfragt werden, sondern auch die „wissenschaftliche Methode“, Darstellungen berühmter Historiker als Glaubenssätze zu behandeln. Dogmen mögen in der Theologie notwendig sein, in der es um Glauben geht, die Wissenschaft aber vernichten sie! Nicht umsonst laufen der Kirche wegen ihrer Haltung zur Wahrheit die Gläubigen davon. Doch dies ist eine andere Geschichte.



Karl der skrupellose Große
Karl der skrupellose Große
Roland Pauler
Autor
ISBN-13 (Impresion): 978-3-73697-406-7
ISBN-13 (E-Book): 978-3-73696-406-8
Price_print
EUR 47,88
Price_ebook
EUR 35,88
01.04.2021

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