Schon im Laufe der Schulzeit lernen Schüler*innen, dass Textanalysen und -interpretationen immer mit Rücksicht auf die jeweilige Entstehungszeit vorgenommen werden müssen. Warum übernehmen renommierte Wissenschaftler kritiklos Darstellungen Karls des Großen, welche im Geist des Nationalismus geschrieben wurden und hinterfragen diese nicht?
Durch den Vergleich signifikanter Aussagen der anerkanntesten Geschichtsforscher der letzten 200 Jahre mit denen von Zeitgenossen Karls des Großen zeigt der habilitierte Mittelalterhistoriker Roland Pauler eindrucksvoll, dass erstere eher ein Spiegel der Geisteshaltung des 19. bis 21. Jahrhunderts sind, als eine akzeptable Rekonstruktion des Handelns dieses Herrschers. Im 8. und 9. Jahrhundert wurde Karl als gütiger Wahrer des Rechts gepriesen. Das 19. Jahrhundert wiederum hat aus ihm einen Herrscher gemacht, der seinem Bruder das Erbe entreißen wollte und ohne Rechtsgrund zwei Frauen verstieß, nur weil dies seinen machtpolitischen Interessen entsprach. Um dieses Herrscherbild zu fördern, verstießen gefeierte Historiker gegen Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens, die sie ursprünglich selbst entwickelt hatten und propagierten. Auch heute noch vermitteln ihre Epigonen ein völlig falsches Bild vom „Vater Europas“, der skrupellos seine Ziele gegen geltendes Recht verfolgte.
Solche Vorstellungen entspringen nicht nur dem Zeitgeist, sie beeinflussen ihn auch. Welche Folgen hat das für die Gesellschaft?