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Selbst und Identität: das „Zwischen” als Sphäre der Eigentlichkeit

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Selbst und Identität: das „Zwischen” als Sphäre der Eigentlichkeit

Holger Richter (Autor)

Vorschau

Vorwort, PDF (55 KB)
Inhaltsverzeichnis, PDF (36 KB)
Leseprobe, PDF (120 KB)

ISBN-13 (Printausgabe) 9783954047383
ISBN-13 (E-Book) 9783736947382
Sprache Deutsch
Seitenanzahl 444
Umschlagkaschierung glänzend
Auflage 1. Aufl.
Erscheinungsort Göttingen
Promotionsort Bremen
Erscheinungsdatum 16.06.2014
Allgemeine Einordnung Dissertation
Fachbereiche Philosophie
Schlagwörter Zwischen, in-between, Identitätstheorie, Heidegger
Beschreibung

In diesem Buch begibt sich der Autor auf der Suche nach der individuellen Identität.
Er beginnt in einer weit zurückliegenden Vergangenheit, in der Antike und im frühen Christentum, um hier mit Blick auf die Historizität aller menschlichen Verhältnisse den Hintergrund oder die Quelle von Vorstellungen zu suchen, die heute noch auf das Denken und Fühlen einen vielleicht intuitiven, aber gleichwohl wirksamen Einfluss ausüben.
Neben philosophiegeschichtlichen Quellen werden jedoch auch immer wieder sozialökonomische Betrachtungen herangezogen, um den rekursiven Einfluss, die Verschränkung von tatsächlichen Lebensumständen und dem Denken deutlich zu machen. Die Hinwendung zur hellenistischen Antike der Stoa, der Epikureer und der Skeptiker mit Beginn der Renaissance war konstitutiv für den Bruch der frühen Neuzeit mit dem Mittelalter und führte zum Humanismus, der Hinwendung zum Diesseits des Menschen und seiner konkreten Verhältnisse und zur Entwicklung des abstrakten und konkreten Individualismus. Gleichwohl bleiben die antiken und christlichen Einflüsse wirksam und führen bis heute zur unaufhörlichen Gegenbewegungen der jeweils vorherrschenden Strömungen materialistischer oder idealistischer Prägung. Von ihrem Ursprung an war es das Anliegen der philosophischen Tradition, die Wirklichkeit auf übergeordnete höhere Prinzipien, auf ein einziges allumfassendes Prinzip zu reduzieren. In der Moderne prägen diese Strömungen noch die Metaerzählungen des Geistes, die Emanzipation der Menschheit, die Teleologie des Geistes und die Hermeneutik des Sinns, als idealistische oder säkulär gewendete Heilsversion, die ein Movens der Geschichte und mit ihr des Einzelnen auf ein endliches Heil verspricht. In der Postmoderne schließlich wird das „Ende der Meta-Erzählungen“ proklamiert (Lyotard) und weicht einer offenen Pluralität der anthropologischen Auffassungen. War die Moderne noch durch ihre Zuversicht gekennzeichnet, mit der Überlegenheit der Vernunft, Unordnung und Irrationalität bändigen zu können, erscheint die Einheit der Gegensätze zunehmend unaufhebbar und in der Postmoderne ist die Differenz der Werte in der Indifferenz aufgehoben. Hierbei spielt der alle gesellschaftlichen Bereiche immer stärker durchdringende Tauschwert eine entscheidende Rolle, der bisher verschleierte „Geist der Berechnung“ drängt die qualitativen Werte in z.B. Politik, Kultur, Sport ins Nebensächliche ab. Die Autonomie der Marktgesellschaft hat den Einzelnen zwar aus feudaler Bevormundung befreit, ihn aber andererseits auf seine quantifizierbaren Komponenten als Produzent oder Konsument reduziert, seine negative Freiheit als Freiheit von Zwängen („freedom from…“) führt nicht automatisch zu der positiven Freiheit („freedom to…“), seine Wünsche, Sehnsüchte und Lebensentwürfe zu verwirklichen. Die nach wie vor bestehende gesellschaftliche Ungleichheit in den Chancen zur Lebensgestaltung als ungleiche Verteilung von Ressourcen verschiedenster Art machen Projekte der Selbstorganisation und –erfindung zu einem prekären Prozess, den auch ein postmodernes Credo nicht zu einem Reich der Freiheit aufwerten kann.
Mit radikaler Enttraditionalisierung, dem Verlust von unstrittig akzeptierbaren Lebenskonzepten und Identitätsmustern (Keupp) verflüchtigt sich auch das “Spurengedächtnisses“ (Giddens), das sich wie ein innerer Horizont hinter den individuellen Biografien der Einzelnen aufspannte.
Wurde Identitätsentwicklung anfänglich noch als Exploration einer tief im Inneren bereits vorhandenen Qualität und als Akkumulation innerer Besitzstände gesehen, verschob sich die Perspektive zunehmend zur konstruktionslogischen Dimension. Identität entsteht entwicklungspsychologisch aus der Spannung zwischen Substanz und sozialer Vorgabe, sie hat dialogischen Charakter, sie entsteht in Interaktionsprozessen und ist stets auf den Anderen und das Andere ausgerichtet. Das Selbst wird infolge eines Reflexionsprozesses des „Ich“ in seinem sozialen Kontext zum „Selbst“, aber die Entwicklung intentionaler Zustände selbst ist ebenso wie die Intersubjektivität ein emergentes Phänomen, das in frühkindlichen Entwicklungsprozessen entsteht (Fogany et.al.) Psychoanalytische Entwicklungstheorien, der symbolische Interaktionismus, die Entwicklungspsychologie, explizit kognitivistische Identitätstheorien, Konzepte und Schematatheorie werden ebenso wie Narrativität als heute noch wirksame Theorien zur Identitäts- und Selbstentwicklung ausführlich diskutiert. Ein Abschnitt über Anerkennung betont die Spannung, die aus der innigen Wechselbeziehung zwischen Identität und Anerkennung resultiert. Intersubjektiv erfahrene Anerkennung ist Voraussetzung gelingender Selbstverwirklichung, nicht Resultat eines abgeschlossenen Prozesses der Selbstentwicklung, sondern ein „menschliches Grundbedürfnis“ (Taylor), Befähigung und Ermächtigung zu einer positiven Selbstbeziehung und damit auch Ausdruck der intersubjektiven Struktur unseres Selbst.
Ein für die übliche Bearbeitung des Themas eher ungewöhnlicher Abschnitt widmet sich ausführlich handlungstheoretischen Reflexionen, denn Identität bildet sich in der Sphäre des (intersubjektiven und interobjektiven) Handelns. Die Frage nach dem Wesen des Handelns beeinflusst, wie Taylor betont, die Frage nach dem kulturellen Selbstbild und reicht bis in ethische Fragestellungen hinein. Ist Handeln ein Produkt evolutionär erworbener Reflexe, unsichtbar von preäexistierenden Codes gesteuert oder affektgesteuert, interessen- oder normgeleitet, von kulturellen Codes und/oder von der Repetitivität routinisierter affektiv-kognitiver Praxis geleitet? Dies ist keineswegs trivial, sondern berührt aufs innigste Fragen des menschlichen Selbstverständnisses. Zwangsläufig werden damit auch Fragen nach Mikro-Makro-Zusammenhängen, dem Einfluss struktureller Tatsachen und die wechselseitige „Evolution“ des Sozialen wie des Einzelnen aufgeworfen. Die Abstraktion des Sozialen als „determinierende Struktur“, die in den Akteuren virtuell vorhanden, als Inkorporation des sozialen Feldes (Bourdieu) oder als „Dualität von Struktur“ (Giddens), die durch Handeln aktualisiert wird, bewirken eine rekursive dynamische Mikro-Makro-Kausalität, die zeigt, das die soziale wie auch die individuelle Ebene Emergenzphänomene sind, die von prinzipieller Fragilität gekennzeichnet sind. Sie realisieren lediglich Zustände begrenzter Stabilität.
Der abschließende Hauptteil des Buches widmet sich der Frage nach dem Verhältnis von Sein und Selbst, ausgehend von dem schon bei Heidegger etwas mythisch verklärt anmutenden Begriff des „Zwischen“. Ist das Sein mehr als das Selbst oder die Identität? Ausgehend von der Kontroverse zwischen einem im Bewusstsein konstituierten Sein, der neocartesianischen Interpretation Husserls und einem Sein Heideggers, das nur in der gelebten Fülle eines Lebensvollzugs verstanden werden kann, wird der Begriff des „Zwischen“ aufgegriffen, als Sphäre, in der „die Bezüge zwischen Mensch und Welt entstehen“, eine „Sphäre der Gleichursprünglichkeit“ (Heidegger). Das „Zwischen“ wird in diesem Buch als relationales Feld von Bezügen erläutert, als Strukturverhältnis, als Geflecht von mitunter komplexen Beziehungen einer Vielzahl von miteinander interagierenden Entitäten oder Agenten, in denen der Einzelne positioniert ist. Diese Verhältnisse bilden – auf der Grundlage einer prinzipiellen Offenheit des Daseins – dynamische raumzeitliche Muster von Mensch-Mensch und Mensch-Objekt-Verbindungen. Die Grundlage, in einer solch behaupteten Offenheit zu residieren, liegt in der Fähigkeit des Mentalen als dyadisches Phänomen, das nicht allein agenten-intrinsisch und lokal, sondern relational verfasst ist und sich multipel realisiert. Das mentale entsteht in sich laufend verändernden intersubjektiven und interobjektiven Feldern, die durch das Zusammenspiel zwischen ihnen entstehen und es ist darin eingebettet.
Das „Zwischen“ ist für Heidegger die Dimension, in der Welt und Dasein einander durchgehen und dabei eine Mitte durchmessen, von der aus sie ausgetragen werden. Dieser Austrag wird durch den sog. „Unter-Schied“ bewirkt und er ist untrennbar mit der Sprache verbunden. Derrida hatte später diesen Begriff aufgegriffen und die „differánce“ formuliert. Sprache ist ein Netz von Differenzen und das „Spiel der differánce“ oder die Funktion des „Unter-Schied“ ist der Prozess der Unterscheidung, weil dem Sprechen ein Denken in einem sehr heterogenen Netz von Oppositionen vorausgeht. Hier werden die Bezüge zur Differenzphilosophie sichtbar. Jedes Wahrnehmungserlebnis jeglicher Art wird durch Differenzen konstituiert, der Träger dieser Differenzierung ist jedoch die Sprache. Differenz ist aber auch eine Form der Zusammengehörigkeit, die Differenzen sind ineinander verschränkt und die Pole existieren nur in der Weise, wie sie im Widerschein der Differenzen erscheinen. Identität ist also eine Differenz und sie ist prinzipiell fragil, weil sie sich mit dem Wandel der Differenzen ebenfalls wandelt. Selbst und Identität ziehen als temporäre Einheit der Differenz eine fragile Spur durch ein wechselndes und bewegliches Kontinuum von Differenzen. Die wahrgenommene Einheit des Selbst ist nur synthetisch, das Ich ist, wie Dennett sagte, ein „Zentrum narrativer Gravitation“.
Das Selbst ist also nicht das ganze Sein, sondern nur eine Selbsttheorie, ein mit der Sprache konstituiertes reflexives Selbst, das zudem nur ein Selbst der Differenzen ist.

Das Dasein ist überwiegend durch vorreflexives, routinisiertes Tun gekennzeichnet, das in Feldern von raumzeitlichen Mustern von Entitäten residiert, die dieses Dasein affizieren und seine mentalen Gehalte beeinflussen. Diese Felder sind sinn- und bedeutungshaft, sie sind Tätigkeitszusammenhänge und dieses Dasein wird gelegentlich von „Inseln der Selbst-Bewusstheit“ unterbrochen, die propositionale Intentionalität vermischt sich mit der vorreflexiven wie Inseln der Bewusstheit in einem vorreflexiven Fluss des Daseins.
Obwohl wir dieses Dasein als gerichteten Fluss erleben, als fließende Kette von Ereignis-Gegenwarten, besteht es jedoch, genauer betrachtet, aus Ereignissen oder Situationen, die einander ablösen und einen Anfang und ein Ende haben. Der Moment des Wechsels markiert den Anfang: die Dinge durchgehen einander und erst durch den Prozess des Unterscheidens, durch das „Spiel der differánce“ werden sie für uns zu dem, was sie „bedeuten“ sollen: aus der unterschiedslosen Einigkeit des Anfangs entsteht eine wahrgenommene Welt und dies ist der „Erzeugungsmodus“ der von uns wahrgenommenen Wirklichkeit.