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Nach dem Studium von Germanistik, Amerikanistik und Anglistik in Mainz und Heidelberg arbeitete der Autor im Schuldienst in Rheinland-Pfalz.
Seine früheren Arbeiten zu Rilke: Das Apollinische und das Dionysische bei Rainer Maria Rilke. Konstituenten einer polaren Grundstruktur im lyrischen Werk des Dichters (1989), Rilkes Seins- und Kunst-Begriff im Spiegel seiner dichterischen Welt (22006), Vier Gestalten der Bibel in Rilkes «Neuen Gedichten» (2013), «O reine Übersteigung!». Rilkes programmatisches Einleitungsgedicht zu den «Sonetten an Orpheus» (2016), R. M. Rilkes „Alkestis“. Dichterische Sprache als sich selbst bewahrheitendes „Versprechen“ von Seinshaftigkeit (2018)
Rezension zu Roland Ruffini:
»O reine Übersteigung!« Rilkes programmatische Einleitungsgedicht zu den »Sonetten an Orpheus«.
Uelvesbüll: Der Andere Verlag 2016 (344 Seiten, ISBN: 978-3-86247-583-4)
Roland Ruffini, dem wir schon mehrere inspirierende Bände und Aufsätze zu Rilkes Werk verdanken, stellt in seinem neuesten Buch über Rilkes Einleitungsgedicht zu den Sonetten an Orpheus fest, dass poetische Sprache für Rilke nicht nur künstlerisch, sondern auch existentiell bedeutungsvoll war. Er betrachtet dessen Gesamtwerk als »eine in sich geschlossene vielfältige Welt«, deren grundlegende Vorstellungen schon früh feststanden, sodass ihm eine deutende Erschließung der Sonette und anderer Gedichte aus dem Ganzen des Werks und dessen »Wesenskern« nicht nur möglich, sondern geboten erscheint. Angesichts solcher Kontinuität steht er der üblich gewordenen Einteilung in (einander überlappende) Werkphasen skeptisch bis ablehnend gegenüber. Die Entwicklung in Rilkes Œuvre liegt seines Erachtens eher in der »sich vervollkommnenden Poetisierung und Verdichtung der Sprache« sowie in »zunehmender thematischer Vertiefung« (S. 4). Die Untersuchung entstehungsgeschichtlicher Momente oder von Kompositionsprinzipien ist unter diesen Vorzeichen sekundär, ebenso eine literaturgeschichtliche Einordnung oder die kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Interpretationen.
Ruffini betrachtet Rilkes Werk als Teil einer abendländischen Traditionslinie, die bei Heraklit beginnt und über Romantik (Kleist, Novalis) und deutschen Idealismus (Fichte) bis zu Nietzsche (›Werden‹ in Entstehen und Vergehen) und Heideggers Vorstellung einer »ontologischen Differenz« zwischen Sein und Seiendheit führt. Der Verfasser hebt hervor, dass Dichtung nach Rilkes Auffassung aufgrund der Identität von Bewusstsein/Sprache und Dasein »weltbildend« sei, indem sie unmittelbar schöpferisch hervorbringe, was sie darstelle, nämlich ganzeitlich-seinshaftes Dasein (Leitsatz: »Gesang ist Dasein«).
Bestimmend für Ruffinis Interpretationen ist demnach Rilkes Weltsicht und Daseinstheorie, laut welcher ein emphatisch beschriebenes irdisches Bewusstsein in den »weitesten Umkreis« ausgreift und dabei Da-Sein und Nicht-Da-Sein in paradoxer Einheit als integrale Teile jedes Dings erfahren oder durchscheinen lässt. Der zirkuläre, aus Werden und Vergehen gefügte Daseinsbogen fällt nach seiner Vollendung in ein Sein, das als solches entzogen bleibt, da es »als die Einheit des ›Werdens‹ nur in diesem als dem Dasein in die Erscheinung« tritt (S. 328). Hier wird man an das Zitat aus Rilkes Brief an Ilse Jahr denken: »statt des Besitzes erlernt man den Bezug« (22.2.1923), das Ulrich Fülleborn so wichtig werden sollte. Poesie ist als Daseinsform »Ausdruck des Seins« im »Werdens-Kreis« (so Ruffini auf S. 198), wobei Motive wie Baum, Säule, Kathedrale, Ball, Turm, Gott als Seins- und Ganzheitssymbole fungieren.
Orpheus als Transzendierender, der »gehorcht, indem er überschreitet«, wird »als Daseinseinheit in der Dichtung« (S. 310) bezeichnet; er spricht in poetischen Bildern, die nichts gemein haben mit der objektivierenden Begrifflichkeit der Mitteilungs- oder »Umgangssprache« (Florenzer Tagebuch). Den Baum in SaO I, I deutet Ruffini so, dass er »den Bereich des Seienden, den das Bild mit seinen Tieren zeigt, überhaupt verlässt« (S. 205). Er entzieht sich der Seiendheit – in Cima di Coneglianos Darstellung dem Bildrahmen – in die »reine Übersteigung« des Seins.
Zur Untermauerung des hier skizzierten Deutungsmusters dienen Vergleiche mit anderen Sonetten und Elegien sowie mit Einzelgedichten. Außerdem werden Zitate aus Prosaschriften (Auguste Rodin, Worpswede, Tagebücher aus der Frühzeit) und einschlägige Briefstellen herangezogen, darunter wiederholt ein Brief an Lally Horstmann (12.3.1926), worin von der »magischen Ebene« die Rede ist, »auf der wir in Wirklichkeit leben«.
Ruffinis Argumentation stützt sich also auf Aussagen Rilkes und wirkt zumeist schlüssig und erhellend. Dadurch, dass die Gedichte auf ein grundlegendes Deutungsschema hin gelesen werden, also auf den erwähnten metaphysischen, wenn auch betont »hiesigen« Bezugsrahmen hin, stellt sich die von Rilke gedeutete Welt in seiner Analyse als kohärent und beständig dar; die Symbole und Chiffren wirken unter diesem übergreifenden Blickwinkel zuweilen austauschbar. Brüche und Nuancen, Strukturen und Entwicklungslinien in den Gedichten oder im Zyklus könnten so unter der Schwelle der Beobachtung bleiben. Auch gerät das einzelne Gedicht in seiner genuin poetischen Faktur, als sprachliche Figuration, Ort der Verwandlung und in sich erfülltes, mit sich wie eine Fontäne beschäftigtes »Kunst-Ding« (Rilke an Lisa Heise, 2.8. 19 19) ein wenig aus dem Fokus – und damit seine je eigene Konstellation als syntaktisch-motivisch-metrisch-rhetorisch-phonästhetisches (usw.) Gebilde eigenen Rechts.
Dies erklärt sich aus der vornehmlich ontologischen Perspektive – der Rilke in Gedichten und brieflichen Äußerungen den Boden bereitet hat – und der grundsätzlichen Schwierigkeit, poetische Gestalt und abstrahierende Begrifflichkeit zu vereinbaren, nimmt aber vielen Einsichten des Autors nichts von ihrer Relevanz, z. B. jener, wonach das Christentum in Rilkes Optik das Dasein geradezu ausschließe, indem es »das vollendete Dasein in die Transzendenz verlegt und es auch dort eben als einseitige Anwesenheit sieht [also nicht ganzheitlich gespannt, Anm. C.E.], die nur verabsolutiert ist« (S. 193).
Da es naturgemäß Berührungspunkte mit und Unterschiede zu bisherigen, auch neuesten Interpretationen der SaO gibt, hätte man gern erfahren, wie sich der Verfasser diesen gegenüber verhält oder von ihnen absetzt, auch wenn er seine »Verfolgung anderer als begrifflich-rationaler Denkformen« in Rilkes Texten bewusst außerhalb der Interpretationsgeschichte und des »akademischen Betriebs« (S. 5) verortet. Analogien und Differenzen zu bestimmen bleibt demnach vergleichender Lektüre vorbehalten. Auf jeden Fall wird man sich auch von seinem jüngsten Rilke-Buch gern anregen und bereichern lassen.
Curdin Ebneter [Sekretär der internationalen Rilke-Gesellschaft, Bern und Autor von Aufsätzen und Publikationen zu Rilke-Themen]
Rezension zu: Rilkes Ontopoetik
Roland Ruffini: Rilkes Ontopoetik. Das reine Symbol der Ganzheit an sich sowie »Papageien-Park« und andere Gedichte des Autors um das Motiv des exotischen Tiers als Bild seinsstiftenden Dichtertums. Göttingen 2021. 394 Seiten.
Konsequent eigene Wege geht Roland Ruffini in der Interpretation von Rilke-Gedichten. Die vorliegende umfangreiche Studie setzt eine einge-hende und exemplarische Analyse des Gedichts »Papageien-Park« an den Anfang. Dass mehr als eine motivgeschichtliche Untersuchung eines exo-tischen Tiers dahinter steckt, macht die Einleitung deutlich, die eine Frontstellung formuliert: Der »Begriff der Ontopoetik soll Rilkes Dich-tung als alternative oder auch konkurrierende Form der Begegnung mit der Natur des Seins und des Seienden gegenüber der philosophischen Dis-ziplin der Ontologie kennzeichnen.« (S. 13) Rilkes Poesie »ist in der Plas-tizität ihrer sinnlichen Sprache unmittelbarer Ausdruck von Dasein, sozu-sagen Dasein als Ganzes konkret repräsentierendes Dasein. Damit ist die Trennung von Dasein und seiner angeblich wesenhaften Fassung in der Begrifflichkeit aufgehoben.« (Ebd.) Die traditionellen Abgrenzungen der Ontologie hinter sich lassend, stellt Ruffini fest: »Damit ist die Trennung von Dasein und seiner angeblich wesenhaften Fassung in der Begrifflich-keit aufgehobcn. Für Rilkes Verständnis von Dichtung als eine Ontologie in diesem Sinne bietet sich der Ausdruck Ontopoetik an.« (Ebd.) Die in-terpretatorischen Folgen dieser Sichtweise sind nicht gering, sie werden gestützt von der stupenden Kenntnis von Rilkes Gesamtwerk, zahlreichen Zitaten auch aus den Briefen des Dichters, Etymologien und Wörterbü-chern. Demgegenüber geraten die Ergebnisse der Rilke-Forschung gele-gentlich in den Hintergrund, was die Argumentationsrichtung nicht schwächt. Rilkes Lyrik von den Neuen Gedichten bis zu den Sonetten an Orpheus bildet das Feld dieser beeindruckenden Untersuchung.
Von Prof. Erich Unglaub, früherer Vorsitzender der Rilke-Gesellschaft